25.03.2012
Prypjat – Das Lied der Liquidatoren
(ein Dokumentarhörspiel von Valentin Jahn)
Der Olymp
Männliche Stimme; altes Mikrofon; totalitäre Stimme; Rede an den neuen Menschen; Mischung aus Sportpalastrede und Ansprache des Parteivorsitzenden auf dem 24. Parteitag der KPDSU; im Hintergrund heroische Marschmusik; Knacken im Mikrofon; eher wie aus einer alten Radioansprache
„Der Mensch hat die trüben Nebel irdischen Mühsal und Knechtschaft glorreich in den Ahnengalerien seiner bemitleidenswerten Vorgängergenerationen verstaut und schreitet nun in gewaltigen Schritten auf den Olymp göttlicher Herrschaft. Im Angesicht der Quantensprünge unserer Geschichte lesen wir den unaufhaltsamen Fortschritt menschlichen Pioniergeistes. Wir haben die Genesis ad absurdum geführt und erschaffen uns durch die Kontrolle urgewaltiger Kräfte neu. Wir haben uns in ungeahnte Höhen erhoben und werden mit dem Postulat: „Alles ist möglich!“ einer goldenen Zukunft der Zivilisation entgegen gehen.“
Nennung des Titels : „Prypjat – Das Lied der Liquidatoren“
Prypjat
Ein Akkordeon spielt russische Weisen, Kinderlachen Spielplatz Geräusche, eine frühsommerliche Stadt im Frieden, Vogelgezwitscher, entfernter leichter Verkehr, Gelächter, Stimmengewirr, eine junge Frau erzählt.
„Ich lebe seit 3 Jahren in Prypjat. Prypjat ist eine junge und moderne Stadt. Plattenbauten sind in die ukrainische Ebene gestreut. Es gibt Kinos, Theater, Bibliotheken und Sportplätze. Es ist soz. eine Vorzeigestadt planwirtschaftlichen Erfolgs. Diese Stadt ist gespeist und genährt wird von dem Kraftwerk Wladimir Iljitsch Lenin.
Der 27. April ist ein warmer Frühsommertag. Wir sitzen draußen vor unseren Häusern, die Kinder spielen auf dem Rasen und den Spielplätzen. Die Sonne strahlt aus dem hellblauen Himmel. Einige Arbeiter haben ein großes Riesenrad aufgebaut für die anstehenden Maifeierlichkeiten. Die Rauchsäule, die wir hinter dem Wald sahen beunruhigte uns damals wenig. Es war so friedlich
Und aus dem Nichts, plötzlich kommt mit einem Mal viel Militär in die Stadt.
LKW- Kollonen; marschierende Truppen, bedrohliches Grummeln; Lautsprecherdurchsagen
Die Soldaten tragen Schutzanzüge und sprechen von irgendeiner Übung. Auf den Straßen fahren Lkw, LKW mit Waschpulver die den Asphalt waschen. Hinter den Wagen laufen die Kinder barfuss durch das Wasser.
Und dann fahren gepanzerte Wagen auf. Männer in Strahlenschutzanzügen und Gummistiefeln steigen aus; wie aus dem Nichts rollen auf einmal Busse in die Stadt – unzählige gelb weiße Busse. Mit Ihnen kommen auch die Lautsprecherwagen:“
LKW Geräusche, eine männliche Stimme im Ansageton durch ein Megafon:
„Genossen und Genossinnen. Im Kernkraftwerk Lenin hat sich ein Unfall ereignet. Als reine Vorsichtsmaßnahme und aus Fürsorge hat die Regierung der Sowjetunion beschlossen, die Stadt Prypjat für drei Tage zu evakuieren.“
Die weibliche Stimme erzählt weiter dahinter Verkehr und aufgeregtes Stimmengewirr
„Wir müssen sofort aufbrechen. Wir dürfen nur Kleinigkeiten mitnehmen. Niemand, niemand weiß was passiert ist. Der Nachmittag war warm und freundlich. Aber Innerhalb von 6 Stunden ist Prypjat evakuiert. Eine verwaiste Geisterstadt.“
Die Liquidatoren
Geigerzähler im hochradioaktiven Bereich; leise Sirenengeräusche; entfernte Schreie; Helikoptergeräusche, vereinzelt Schüsse, es herrscht Chaos; Eine zitternde männliche Stimme berichtet ängstlich über das Inferno. eintönig aber nicht ohne Emotion
„Als wir den Reaktor zum ersten Mal sahen, konnten wir den Blick nicht abwenden. Er sah aus wie ein bedrohliches, intelligentes Lebewesen, das tötet, ohne sich zu bewegen.. Dort wo einmal Reaktor IV gewesen ist, klafft jetzt ein riesiges Loch.
Die Kommandanten teilen uns in kleine Gruppen ein. Ein Signalton erschallt und wir müssen raus aufs Dach – mitten ins Herz der Bestie. Es herrscht Chaos: Verbogene Metallträger, vibrierende Kabelschächte, geschmolzener Beton. Ziellos und planlos, mit weißen Löchern in den Augen stolpern wir über das Trümmerfeld. Der unsichtbare Feind brennt sich tief in jeden Zellkern. Du spürst deine Zähne nicht mehr. Die Stiefel schmelzen auf den glühend heißen Grafitsplittern. Die Körper schwitzen unter den massiven Bleiplatten, die tonnenschwer am Leib hängen.
Über uns verfängt sich der Rotor eines Helikopters im Stahlgewirr eines monströsen Lastenkrahns und stürzt taumelnd zu Boden. Von weiter Ferne hören wir Schüsse. Sie stammen von Soldaten in Schutzanzügen, Die Soldaten treiben das Wild durch die Wälder treiben um die kontaminierten Tiere zu erlegen.
45 Sekunden, länger können wir nicht auf dem Dach bleiben. Mit bloßen Händen schleudern wir Kraftwerktrümmer über den zerborstenen Rand des Reaktors. Dann ertöt das Signal schon ein zweites Mal und wir stolpern zurück ins innere des Monsters.
Der General überreicht jedem von uns eine Urkunde. Zurück in den Unterkünften gibt es Wodka – umsonst. Rotbraun gebrannt und schweiß gebadet sitzen wir auf den Lkw-Ladeflächen. Wir haben den Feind nicht gesehen, wir haben ihn nicht gehört nur dieser leichte metallischer Geschmack auf der Zunge irritiert uns.
Noch später als wir längst außer Sichtweite des Schlachtfeldes sind schlägt der Feind erbarmungslos zu. Es beginnt mit Übelkeit. Wir kotzen und scheißen uns die Seele aus dem Leib. Nach Stunden brechen grässlich schmerzende und eiternde Brandwunden in unsern Gesichtern, an Armen Beinen und Bäuchen auf. Das Rückenmark beginnt sich langsam zu zersetzen. Das Monster frisst uns auf obwohl wir bereits hunderte Kilometer weit weg sind.
Wir haben alles im Griff
Atomlobbiestin vertrauenserweckende Rede, selbstbewusst, Die absolute Werbung für die nukleare Technik,
„Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Atom ermöglicht den Völkern der Erde den Triumph über die eng geschnallten Fesseln begrenzter Ressourcenkapazitäten. Unser modernes Leben ist schnell, es ist grell und es ist hell. Das moderne Leben fordert Energie, es erfordert Unmengen an Energie. Die nukleare Technik erzeugt eine saubere Energie, mit kontrollierbaren Risiken. Wir bauen die sichersten Reaktoren. Wir bauen die saubersten Reaktoren. Wir haben die höchsten Sicherheitsstandards.
Das Atom schenkt uns die Macht über die Geschwindigkeit des Fortschritts selbst entscheiden zu können. Das nukleare Zeitalter fordert auch seinen Tribut, doch wir haben die Lage jederzeit und an jedem Ort unter Kontrolle! Ich danke Ihnen“
Die Ärztin:
Krankenhausatmosphäre, Sterilität, leises Summen der Geräte, EKG, Herztöne, Beatmungsgerät
„Ich bin Ärztin in der einzigen Spezialklinik, die auf den Umgang mit hoch verstrahlten Opfern eingerichtet ist. Die ersten Patienten kamen am 28. April zu uns. Es waren Helikopterpiloten die über mehrere Stunden hinweg bis zu neun Einsätze über dem offen brennenden Reaktor geflogen sind. Es waren meist junge Männer, die meist gar nicht wussten was mit ihnen eigentlich passiert ist. Und bis auf den nuklearen Sonnenbrand war zunächst auch gar nichts zu sehen. Manche machten sogar noch Witze und waren stolz auf ihre Heldentaten.
Andere aber waren bereit so stark verstrahlt, dass wir sie nur in Quarantänezelten betreuen konnten. Das sind hermetisch abgeriegelte Plastikzelte, in deren Außenhaut Handschuhe mit Ärmeln eingenäht sind, so dass wir als Ärzte keinerlei direkten Kontakt zu den Patienten haben mussten.
Eines der ersten Symptome war dann die Auflösung der Haut. Sie bekam tiefe Brandlöcher an den Stellen, die nicht von Kleidung geschützt war, wie Gesicht und Hände. Die Haare fielen den Männern innerhalb von wenigen Stunden komplett aus. Die Ersten starben schon nach 48 Stunden und die letzen nach 3 Monaten. Es müssen über 500 gewesen sein. Ihre Körper lösten sich langsam aber stetig auf. Wie sie wissen zerstört und zersetzt das Cäsium die Zellen. Geschwüre wuchern am ganzen Körper, und am Ende sickerte den Männern ein Gemisch aus Blut, Kot und Eingeweiden durch den Rücken. Die Regierung nannten sie Helden aber wir nannten sie einfach nur Leichen.“
Die Ödnis
Stille Ebene, Wind fegt darüber hinweg., Krähenschreie eine Nachricht aus längst vergangenen Zeiten, wie von einer rauschenden leiernden nach Jahrhunderten gefundenen Kassette.
„100 000 Quadratkilometer auf 100 000 Jahre unbewohnbar. Nuklearer Wind fegt über die stille Ödnis hinweg. Ein unsichtbares dantesches Inferno, eingeätzt in die organischen Platinen und Schaltkreise des kontaminierten Lebens. Schwarze Vögelschwärme im geometrischen Parallelflug ziehen ahnungslos über das Land. Verwaiste Roboterleichen verrostet und verrottet. Die Erosion frisst sich in das Stahlskelett in dessen Innerem die erkaltete atomare Lava sich unaufhörlich nach neuen Opfern sehnt. Wie ein Zellkern bricht die Außenhaut des stählernen Sarkophages auf. Neuartige unbekannte apokalyptische Reiter sprengen heraus. Vereinzelt huschen alptraumartige Bildfetzen über die Netzhautoberflächen steifer Technokraten. Mit schäumenden Mündern, in der Gewissheit der Niederlage im Angesicht neuer Schlachten posaunen sie mit schallenden Trompeten ihre hoch trabenden Zukunftsvisionen hinaus in die Stille des atomaren Winters.“
Die Zukunft
Eine Collage aus den vorherigen Szenen; überlagert vom Störgeräusch rauschender Fernsehsender, Geigerzähler, Marschmusik, russische Weise, Sirenengeheul, Pfeiffender Wind, Kindergelächter, einpeitschende Reden, ängstliches Gestotter, schneller werdend undurchsichtig werdend bis zum Übergang in die Abspannmusik
… die trüben Nebel irdischen Mühsal…
… jederzeit und an jedem Ort…
… hat sich ein Unfall ereignet….
… 100 000 ende Quadratkilometer auf 100 000 Jahre…
… wir nannten sie Leichen…
… weitläufig in die ukrainische Ebene gestreut…
… ein Gemisch aus Blut, Kot und Eingeweiden…
… die Macht über die Geschwindigkeit des Fortschritt…
… Das Rückenmark beginnt sich zu zersetzen…
… hat ich ein Unfall ereignet…..
… Das Monster frisst uns…
… hat sch ein Unfall ereignet…..
… jeder zeit und an jedem Ort…..
… WIR HABEN DIE LAGE UNTER KONTROLLE…
… ein bedrohliches, intelligentes Lebewesen…
… WIR HABEN DIE LAGE UNTER KONTROLLE…
Stabliste:
SprecherInnen:
– Mirijam Salzer
– Max Kaufmann
– Gerwich Rozmyslowski
– Rebekka Salzer
– Elisa Ueberscher
– Magdalena Gollab
– Haidi ausm Haus
– Valentin Jahn
Ton:
– Urdyl Bauer
Autor Schnitt und Regie:
– Valentin Jahn
Vielen dank an das Odeon Theater Wien, 2012